„Mängelexemplar“

05.11.2010

Vortrag und Diskussion mit Simon Wagenschütz, M.A. (Korea-University) über

Sarah Kuttner: „Mängelexemplar“.  Fräuleinwunder, neue Frauenliteratur oder einfach nur Generation Praktikum?

Simon Wagenschütz bei DeLiDi

Simon Wagenschütz bei DeLiDi

2008 erschien in Deutschland der Roman Feuchtgebiete der ehemaligen VIVA-Moderation Charlotte Roche, in dem Roche ausgiebig verschiedene Sexualpraktiken einer jungen Frau schildert. Der Roman löste eine breite Debatte in Deutschland aus. In den 1970er Jahren war Erica Jongs Roman Angst vorm Fliegen mit dem Aufkommen des Feminismus als genuiner Ausdruck weiblicher Subjektivität rezipiert worden und hatte den Grundstein für das Genre Frauenliteratur gelegt. Mehr als 30 Jahre später verstand man das Erscheinen von Roches Roman, als den Ausdruck einer neuen Generation von Frauen. Roche und andere Autorinnen wie beispielsweise Maria Sveland aus Schweden und Ragnhild Moe aus Norwegen verstanden sich aber nicht als Vertreterinnen des klassischen Feminismus, sondern als Repräsentantinnen einer neuen Form des Feminismus. Manche Rezensenten gaben ihnen das Etikett ‚Postfeministinnen‘. Andere sprachen aber auch von einem neuen ‚Fräuleinwunder‘, ein Begriff, der Ende der 1990er Jahre vom Spiegel für eine Gruppe von jungen Autorinnen verwendet wurde, die damals ihre Debüts veröffentlichten, der aber das erste Mal in den 1950er Jahren in den USA auftauchte und attraktive, selbstbewusste, moderne Frauen aus Deutschland meinte und für den das deutsche Mannequin Susanne Erichsen Modell gestanden hatte.

2009 veröffentlichte Sarah Kuttner ihren Roman Mängelexemplar. In seinem Mittelpunkt steht Karo Hermann, die beispielhaft für die Frauen der heutigen Generation stehen soll. So verwunderte es nicht, dass Sarah Kuttner sofort in eine Reihe mit Charlotte Roche gestellt wurde, um deren Feuchtgebiete die Debatten 2009 noch nicht verebbt waren. Dass die beiden in einen Topf geworfen wurden, mag seinen Grund aber insbesondere darin gehabt haben, dass die Lebensläufe der beiden große Ähnlichkeiten aufweisen. Beide begannen als Moderatorinnen für VIVA und gingen später unter die Schriftstellerinnen. Beide scheinen – Ursula März zufolge – wie Hape Kerkeling, „zu jenen Seiteneinsteigern des Buchmarkts [zu gehören], deren riesige Bucherfolge ganz offensichtlich von der Aura literarischer Amateurhaftigkeit profitieren“ und – so darf man wohl hinzufügen – von ihrer Popularität als Fernseh-Moderatoren. Und wie zuvor Charlotte Roche bekam auch Sarah Kuttner die Labels ‚Fräuleinwunder‘ und ‚neue Frauenliteratur‘ verpasst. Handelt es sich aber bei Kuttners Karo Herrmann um ein Fräuleinwunder? Handelt es sich bei Mängelexemplar um einen Text der neuen Frauenliteratur?

Karo Herrmann ist Ende 20 und arbeitet als Eventmanagerin. Als sie Job und Freund verliert, rutscht sie in eine Depression. Wie Karo Herrmann diese Depression nun erlebt und wie sie wieder aus der Depression findet, ist das Thema von Kuttners Buch. Während in Roches Roman die Sexualität der heutigen Frauengeneration im Mittelpunkt steht, ist es bei Kuttner die Depression (der heutigen durchflexibilisierten, globalisierten jungen Erwachsenen um Mitte 20). Während Roche sich dafür einsetzt, dass Frauen unbefangen ihre eigene Sexualität ausleben sollen, fordert Kuttner mit ihrem Roman ein Ende der Tabuisierung der ‚Volkskrankheit‘ Depression. Doch mag Mängelexemplar auch einen gewissen Anspruch für sich reklamieren, so gelingt es ihm kaum, diesen einzulösen. Das liegt auch daran, dass das Buch mit seiner „bizarren Cartoonsprache“ (Ursula März), das Thema als seichte Komödie mit Happy-End-Garantie präsentiert und sich dabei in einem „Jargon aufgekratzter Uneigentlichkeit“ (Ursula März) verliert. Am Ende von Karo Herrmanns einjährigem Leidensweg ist alles gut: Sie arbeitet als Freelancer für ihren alten Arbeitgeber und hat wieder einen Freund. Man versteht als Leser am Ende der Lektüre gar nicht, wo jetzt das eigentliche Problem war.

Karo Herrmann ist weder ein Fräuleinwunder noch eine Heroin einer neuen Frauenliteratur. Karo Herrmann ist mit ihrem Lebenslauf vielmehr eine typische Vertreterin der „Generation Praktikum“ (Matthias Stolz), der in Nikola Richters Die Lebenspraktikanten aus dem Jahr 2005 ein erstes literarisches Denkmal gesetzt wurde. Karo Hermann ist in der der Uneigentlichkeit der ‚floundering period‘ stecken geblieben und hat sich zum Schluss von Mängelexemplar darin eingerichtet, was sie auch noch als Erfolg versteht! Mit diesem Schluss aber gibt das Buch jeden emanzipatorischen Anspruch auf, weswegen man zu Recht vom „Tussen-Biedermeier“ (Arne Willander) sprechen kann. Nichts wird wirklich in Frage gestellt. An den Verhältnissen, deren Produkt und Opfer zugleich Karo Herrmann ist, wird nicht gerüttelt. Insofern könnte Kuttners Mängelexemplar als ein „Symbol für das Scheitern der Frau“ (Arne Willander über die neue Frauenliteratur der Roches, Svelands und Moes) betrachtet werden.

 

Nachweis der in der Kurzfassung zitierten Texte:

Ursula März: Die Aufgekratzten. Link: http://www.zeit.de/2009/16/Glosse-Literatur (zuletzt gesehen am 19.10.2010).

Matthias Stolz: Generation Praktikum. Link: http://www.zeit.de/2005/14/Titel_2fPraktikant_14 (zuletzt gesehen am 01.11.2010).

Arne Willander: Sarah Kuttner sucht den Mann für Löffelchen-Sex. Link: http://www.welt.de/kultur/article3518214/Sarah-Kuttner-sucht-den-Mann-fuer-Loeffelchen-Sex.html (zuletzt gesehen am 19.10.2010).

 


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